wir dokumentieren:
PRESSEMITTEILUNG DER VERTEIDIGUNG Hamburg, 22.11.2010
Die Heimat der zehn Angeklagten ist Somalia in Ostafrika.
Somalia wird seit 1991 zerfressen vom Bürgerkrieg ; das Land wird von der UNO als
“failed state“ eingestuft - ein Land, dem selbst die UNO nicht mehr helfen kann. Die politischen und sozialen Strukturen sind - ähnlich wie in Afghanistan - weitgehend zerstört. Hunderttausende Somalis hungern, die medizinische Versorgung ist zusammengebrochen. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen rivalisierender Clanmilizen mit erheblichen Opferzahlen, die Al-Shabab terrorisiert große Teile der Bevölkerung. Das somalische Volk leidet; eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht nicht.
Die Angeklagten wurden am 5.April 2010 auf hoher See vor der somalischen Küste festgenommen und sind über die Niederlande nach Hamburg überstellt worden.
Aus der Sicht der Verteidigung sind folgende Fragen vorrangig zu klären:
1. Nach § 19 StGB kann nur bestraft werden,wer zur Tatzeit mindestens 14 Jahre alt ist. Bei einem der hier Angeklagten gibt es gravierende Zweifel an seiner“ Strafmündigkeit“; gegen einen nicht strafmündigen Menschen darf ein Strafverfahren nicht durchgeführt werden. Der Klärung des Alters dieses Angeklagten kommt Priorität zu.
2. Die Angeklagten sind nach Aktenlage von holländischen Marinesoldaten in Ausübung nationalen Rechts von einem deutschen Frachter auf ein holländisches Kriegsschiff verbracht und dort längere Zeit festgehalten worderiEine richterliche Haftanordnung dafür gab es nicht Anschließend befanden sich die Angeklagten in den Niederlanden in Auslieferungshaft; der holländische Staat wollte gegen die Angeklagten nicht selbst strafrechtlich vorgehen. Es wird geklärt werden müssen, ob die tatsächliche Gewahrsamnahme der Angeklagten durch holländische Marinesoldaten und die Verbringung in ein holländisches Gefängnis sowie die spätere Auslieferung nach Deutschland völkerrechtlich, nach niederländischem und nach deutschem Recht zulässig war. Eine rechtswidrige Verbringung der Angeklagten nach Deutschland könnte ein Prozesshindernis darstellen; das Verfahren gegen die Angeklagten wäre dann einzustellen.
3. Aus der Aktenlage ergeben sich Hinweise darauf‚ dass deutsche Behörden frühzeitig über
die Vorgänge um die MV “Taipan“ informiert waren und maßgeblich in die Ergreifung der Angeklagten und deren Verbringung nach Holland involviert gewesen sein könnten; die Verteidigung begehrt Auskunft darüber, in wieweit deutsche Dienststellen in diese Vorgänge eingebunden waren und welches Wissen diese Dienststellen ggf. hatten. Das wird aufzuklären sein.
4. Im Falle eines Schuldnachweises werden die Lebensbedingungen jedes einzelnen Angeklagten unter Berücksichtigung örtlicher Gegebenheiten möglichst genau aufzuklären sein; nur so kann ggf. individuelle Schuld festgestellt und bewertet werden. In diesem Zusammenhang wird - durch Beiziehung von Sachverständigen - nicht nur die Entwicklung
Somalias seit 1991 zu beleuchten sein, sondem auch die Frage, welche Auswirkungen die
Raubfischerei durch industrielle Fischfangflotten aus Europa und Asien und die Giftmüllverklappung vor der somalischen Küste auf die Lebensbedingungen der Angeklagten hatte.
5. Ob die Justiz des Staates Kenia weiterhin bereit ist, für die nichtafrikanischen Staaten den
“Ausputzer“ bei der strafrechtlichen Verfolgung von Somalis zu spielen, bleibt abzuwarten.
Die EU und andere Geberländer verhandeln mit Kenia über eine finanzielle Wunschliste der
kenianischen Regierung, um - ebenso wie mit Tansania und den Seychellen – ein “Abkommen“ über Nachbarschaftshilfe zu erreichen. Die so eher zufällig einzelnen Ländern zugeordneten Strafprozesse gegen Somalis in den USA, in Frankreich, in den Niederlanden, in Kenia und jetzt in Hamburg sind keine Lösung des Problems; jeder weiß, dass nur eine politische Lösung wirksam sein kann.
6. Es wird sich in diesem Verfahren zeigen, ob die Befassung der Hamburger Justiz mit den Vorgängen im Indischen Ozean opportun ist; die im deutschen Strafrecht normierten Strafzwecke der General- und Spezialprävention greifen ersichtlich nicht. Eine Verurteilung der Angeklagten durch dieses Gericht wird die Ursachen der Piraterie im Indischen Ozean nicht beeinflussen. Eine Resozialisierung der Angeklagten in der Bundesrepublik Deutschland dürfte nicht erwünscht sein‚ eine Resozialisierung der Angeklagten für ihr Heimatland ist nicht möglich.
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