kein mensch ist illegal hamburg

"Ihr sollt wissen, daß kein Mensch illegal ist.
Das ist ein Widerspruch in sich. Menschen können schön sein oder noch schöner. Sie können gerecht sein oder ungerecht. Aber illegal? Wie kann ein Mensch illegal sein?"

Elie Wiesel

Sonntag, 18. Dezember 2011

Hamburger „Piratenprozess“: Gericht will keine Entlastungszeugen laden

Presse-Information
Hafengruppe Hamburg – Dritte Welt
kein mensch ist illegal
Eine Welt Netzwerk Hamburg e.V.

Hamburger „Piratenprozess“:
Gericht will keine Entlastungszeugen laden – Minderjährige Angeklagte bleiben mit verschärftem Haftbefehl in U-Haft – Gewalt und unterlassene Hilfeleistung in JVA Hahnöversand?


Führt das Landgericht Hamburg einen ergebnisoffenen Prozess? Das fragen sich nicht nur die VerteidigerInnen der zehn mutmaßlichen Piraten aus Somalia. Auch BeobachterInnen des Hamburger Prozesses stellen fest, dass die zuständige Kammer des Landgerichts Hamburg einseitig und zu Lasten der Angeklagten vorgeht. Zu den ProzessbegleiterInnen zählen die Gruppen kein mensch ist illegal Hamburg, die Dritte-Welt-Hafengruppe Hamburg und das Eine Welt Netzwerk Hamburg.

Die Verteidigung hat zahlreiche Beweisanträge für ihre Mandanten aus Somalia gestellt, die allesamt abgelehnt wurden. Insbesondere weigert sich die Kammer, Zeugen aus Somalia zu laden. Bislang hat sie nur Zeugen des Bundeskriminalamtes, der niederländischen Marine, der Besatzung der Taipan und europäische "Experten" vernommen.

Weil die Staatsanwaltschaft sich nicht um eine umfassende Beleuchtung des Geschehens bemüht hat, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre, hat die Verteidigung mühselig Zeugen und deren Kontaktdaten ermittelt. Diese haben Ereignisse in Somalia kurz vor dem Überfall des Hamburger Containerschiffs Taipan am 5. April 2010 mitbekommen. Sie könnten zum Beispiel bezeugen, dass einige Angeklagte unter Waffengewalt zur Piraterie gezwungen wurden – und mithin freigesprochen werden müssten.

„Es kann nicht sein, dass die Angeklagten aus Somalia hierher verfrachtet werden und ihnen dann ihre Herkunft ständig zum Nachteil gereicht – sei es, dass die Jugendlichen nicht aus der völlig unverhältnismäßig langen Untersuchungshaft entlassen werden, mit der Begründung, sie hätten hier keine Familie; sei es, dass Dokumente aus Somalia nicht anerkannt werden; sei es, dass Entlastungszeugen, deren Aufenthaltsort und Telefonnummer bekannt sind, nicht geladen werden, mit dem Hinweis, sie hätten keine Ausweisdokumente und seien unerreichbar, weil es in Somalia kein Meldewesen gebe“, sagt Michaela Goedecke von der Gruppe kein mensch ist illegal Hamburg.
Auch eine Vernehmung per Video aus der Deutschen Botschaft in Nairobi/Kenia wird ausgeschlossen, da dort laut Gericht die technischen Möglichkeiten fehlen.

Der Hochtechnologie-Staat Deutschland beteiligt sich übrigens seit 2008 mit Militär, Geheimdienst und enormen Kosten an der EU-Antipiraterie-Mission Atalanta. „Die Strafverfolgung mutmaßlicher Piraten ist wichtiger, abschreckender Bestandteil des Vorgehens gegen Piraten“, heißt es auf der Website des Auswärtigen Amtes. BeobachterInnen fragen sich, ob das Hamburger Landgericht nun ein Exempel statuieren muss, um einen teuren, militärischen Einsatz zu legitimieren.
Der Bundestag hat das Atalanta-Mandat kürzlich verlängert. Das Schweizer Parlament hat hingegen einen entsprechenden Beteiligungsantrag mit der Begründung abgelehnt, die Mission sei ein „Krieg ohne Kriegserklärung“ und die Schweiz immer noch neutral.

Kritische ProzessbeobachterInnen, MitarbeiterInnen der Jugendhilfe, AnwältInnen und andere Beteiligte haben mit großem Engagement eine Jugendwohnung für die drei minderjährigen Angeklagten gefunden. Auch um die Finanzierung und die Klärung des Aufenthaltsstatus der Jugendlichen haben sie sich bemüht, obwohl dies Aufgabe des Gerichts gewesen wäre.
Die Sozialprognosen der Jugendlichen sind durchweg positiv. Die Jugendgerichtshilfe hatte festgestellt, dass eine Straffälligkeit in Hamburg, unter weniger lebensbedrohenden Umständen wie in Somalia, sehr unwahrscheinlich sei. „Alles lag fertig auf dem Tisch – aber die Kammer lehnt es abermals ab, die Jugendlichen endlich aus der überlangen U-Haft zu entlassen“, so Goedecke.
Zwei der Jugendlichen erhalten schon über einen längeren Zeitraum Psychopharmaka ohne weitergehende Maßnahmen. Eine notwendige psychotherapeutische Versorgung findet nicht statt – trotz stetiger Verschlechterung des Gesundheitszustandes, wie der zuständige Psychiater dem Gericht kürzlich mitgeteilt hatte.

Auch eine altersgerechte Unterbringung sei dringend erforderlich, so Goedecke. Die besonders negativen psychologischen Auswirkungen der Haft auf die Jugendlichen verschlimmerten sich, je länger die Haft andauere. Deutlich wird dies etwa daran, dass einer der jungen Angeklagten nach eigenen Angaben am Wochenende von einem Mithäftling malträtiert und danach keinem Arzt vorgestellt wurde. Erst einen Tag später, beim Verhandlungstermin am Montag, wurde er im Zentralkrankenhaus Holstenglacis untersucht und wegen Verdachts auf Gehirnerschütterung für drei Tage für verhandlungsunfähig erklärt!

Die Angeklagten sind seit fast 20 Monaten in U-Haft, der Prozess läuft wahrscheinlich noch bis zum Frühjahr 2012.


Nächster Prozesstag ist Mittwoch, der 21.12., um 9 Uhr.

Presse-Information
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