Sylvie, Joelle und die kleine
Victoria Miracle, die einzigen Überlebenden des Schiffsunglücks, dass am 24.
April 2017 zwischen der Türkei und Griechenland stattfand.
Sylvie:
Ich werde ab dem Zeitpunkt
erzählen, als wir uns in der Türkei befanden.
Ich heiße Sylvie und ich bin 42
Jahre alt. Die Türkei hab ich am 20.April 2017 verlassen. Ich war nur drei Tage
in Izmir.
Vor der Überfahrt kannten Joelle
und ich uns nicht. Wir haben uns erst im Schlauchboot getroffen. Um damit
direkt anzufangen: Ich konnte da nicht einsteigen, ich wollte nur noch weg.
Wir waren 24 Leute und ich bin
immer mehr nach hinten in der Schlange gerutscht, für die anderen Platz
machend, weil ich einfach nicht einsteigen konnte. Ich hatte zu viel Angst
davor. Weil es schwierig war, gleichzeitig meine Tasche zu halten und
einzusteigen, habe ich sie Joelle gegeben und sie gebeten mir zu helfen. Sie
hat meine Tasche gehalten. Dann bin ich an Bord des Schlauchboot gegangen und
habe gesagt:
„Gib mir die Tasche!“
Sie antwortete: „Du hast mir die
Tasche gegeben, lass sie einfach bei mir. Ich gebe sie dir zurück, wenn wir
ankommen. Kein Problem.“
„Ok, kein Problem“ sagte ich dann
zu ihr.
Im
Boot fühlten wir uns
nicht wohl, es waren zu viele Leute. Es war erstickend voll. Ich war froh, die
Tasche bei ihr lassen zu können. Es war jetzt neun Uhr abends und unsere Reise hatte
begonnen.
Mitten auf dem Meer hatte das
Schlauchboot auf einmal keinen Treibstoff mehr. Ich wollte mein Telefon
anmachen um Hilfe zu rufen und bat deshalb Joelle es aus meiner Tasche zu
holen. Wir hatten alle unsere Telefone ausmachen müssen und der Junge, den ich
darum bat, seins anzumachen und um Hilfe zu rufen, hat es nicht getan. Auf
jeden Fall öffnete
Joelle die Tasche, fand mein Handy und gab es mir. Kaum hatte ich es an und
wollte telefonierte schwappte eine Welle über das Schlauchboot und riss es mit
sich über Bord.
So begann der allerschlimmste
Alptraum. Das Schlauchboot begann zu sinken.
Ich kann nicht weitersprechen.
Joelle, kannst du übernehmen?
Joelle:
Ich habe die Türkei verlassen,
weil ich schwanger war und mich dort nicht sicher fühlte. Ich suchte nach einem
Ort, der mir Sicherheit versprach. Ich habe eine Frau getroffen, die mich
unterstützt hat. Um bis zum Boot zu kommen mussten wir in den Wäldern bleiben
bis es Nacht wurde und dann ging es los.
Ich habe das Boot mit Sylvie als
letztes betreten. Als wir losfuhren, hatte ich diese komische Gefühl, ich weiß
nicht warum, auf jeden Fall weinte ich. Einfach so.
Und weil ich Christin bin, begann
ich zu beten. Ich betete zu Gott, dass er mich beschützt, damit ich bei unserem
Ziel ankomme. Ich weinte. Eine meiner kongolesischen Schwestern, Guiliane,
fragte mich:
Warum weinst du?
Ich sagte ihr, dass ich es nicht
wüsste, dass ich einfach ein komisches Gefühl hätte.
Sie sagte: „Nein, du weinst, damit
Gott dich segnet, aber du sollst nicht weinen beim Beten.“
Ich sagte dann: „Okay, ich höre damit auf.“
Es waren zwei Kinder mit an Bord.
Auch sie weinten die ganze Zeit als würde etwas passieren und sie würden es
fühlen. Sie weinten und weinten während wir im Boot saßen und wir waren so
viele und das Boot war viel zu klein für uns alle.
Der Bootsführer sagt mir auf
Englisch, obwohl ich das nicht so gut kann: „ Sag deinen Brüdern und
Schwestern, dass sie nicht rauchen sollen. Es ist Treibstoff an Bord und es könnte dann zu einer Explosion
kommen.“
Nach etwa fünf Minuten fühlte ich,
dass Wasser ins Boot eindrang. Ich hatte nichts bei mir, aber ich sagte den
Anderen, sie sollen ihre Sachen über Bord werfen, um das Boot leichter zu
machen. Ich flehte sie an. Das einzige was ich dabei hatte, war die blaue
Bibel, ein Stück Seife und die Kleidung, die ich trug. Nichts mehr.
Die Leute sagten: „Jetzt sind wir
sicher. Nothelfer werden kommen und uns retten.“ Ich bat den Typen: „Ruf die
Retter an.“ Aber, er wollte das nicht. Er sagte: „Ich kann mein Handy nicht
anmachen, dann werden sie uns fangen.“
Ich erwiderte, dass ich lieber
gefangen als tot sei.
Sylvie bekam mit, dass ich darauf
bestand, dass er anrief und sie sagte: „Gib mir das Telefon aus meiner
Handtasche, dann rufe ich an.“
In der kurzen Zeit, die ich
brauchte, um ihr das Handy zu geben, begannen wir schon zu sinken. Es ging sehr
schnell.
Und ich war im achten Monat
schwanger. Mein Bauch war so groß, dass ich dachte ich bekomme ein Baby von 4
Kilo. Ich konnte die Schwimmweste nicht schließen. Ein Mann aus Mali hat sie
mit ein paar Schnüren um mich herum gesichert.
Wir sanken und jeder von uns
verließ das Boot in eine andere Richtung. Ich ging mit Guilaine, wir trieben im
Wasser und dort im Wasser treibend trafen wir auf Teddy.
Ich fühlte mich sehr kraftvoll.
Ich weiß nicht, woher das kam, denn als wir ins Wasser fielen war da nichts:
Keine Boote, keine Fischer, keine Polizei. Niemand.
Wir blieben die ganze Nacht im
Wasser und als der Morgen anbrach sagte ich zu Guilaine: „Weine nicht, sie
werden kommen und uns retten.“
Guilaine antwortete: „Nein, du
siehst doch, in der ganzen Nacht kam niemand.“
Ich sagte ihr:
„Okay, in der Nacht kam niemand,
weil es so kalt war und so dunkel. Ich glaube sie werden uns retten.“
Ich glaubte daran, weil der Tag
anbrach und es heller wurde.
Guilaine sagte:“Okay, kein
Problem.“ Aber sie zweifelte. Dann haben wir Teddy wieder getroffen und er
sagte uns, wir sollten wach bleiben. Wir sollten nicht im Wasser einschlafen.
Wir gaben uns Mühe.
Nach einer Weile sagte Guilaine:
„Ich bin müde. Ich kann nicht mehr. Wirklich, ich kann nicht mehr.“
Ich sagte dann zu ihr:
„Weisst du, wenn ich mir meine
Lage ansehe, dann habe ich keine Möglichkeit dir zu helfen. Ich kann noch nicht mal mir
helfen.“
Sie sagte:“Kein Problem“
Nach zwei Stunden wurden wir durch
eine Welle getrennt. Ich war alleine. Komplett alleine.
Ich weinte, aber eine Stimme sagte
mir: „Weine nicht, wer sagt, dass die anderen gerettet werden und du nicht? Wer
sagt, dass du stirbst?“
Ich sagte: „Okay, Dein Wille
geschehe. Weil, ich kann nichts mehr tun.“
Ich war so müde, so erschöpft. Während ich schlief kämpfte
ich um meine Position zu verändern und ich sagte: „Gott, wenn du mir aus dieser
Lage hilfst und aus dem Meer, dann werde ich dir immer dankbar sein.“
Und dann sah ich ein großes
Boot,das in meine Richtung kam und dann abdrehte. Ich fragte mich: „Warum dreht
sich dieses Boot?“ Und dann sah ich ein anderes Boot, so ein oranges,wie die
Leute es nutzen um das Meer zu überqueren, nur größer.
Es war nicht in meiner Nähe. Eine
weiße Person sprang ins Wasser um mich zu retten. „Sie ist schwanger!“ schrie
sie.
Sie nahmen mich an Bord,
versorgten mich mit Medizin und brachten mich an Land. Dort fragten sie:
„Wieviele seid ihr?“
Ich sagte: “26“. Ich wusste nichts
anderes. Und dann sah ich Sylvie: „Wo sind die Anderen? Lass uns hoffen, dass
sie sie auch herbringen, selbst wenn sie nicht mehr leben.“
Aber niemand kam nach uns.
Bis sie uns ins Krankenhaus
brachten: Niemand.
An dem selben Abend sah ich einen
Assistenzarzt und einen Psychologen und ich fragte sie: „Wo sind meine Brüder
und Schwestern?“
Sie antworteten nicht.
Dann kam die Polizei um mich zu
befragen, als ich begriff, dass sie die Polizei waren fragte ich wieder: „Wo
sind meine Freunde?“
Sie sagten nichts.
Ich sagte: „Okay, sag mir nicht,
dass die Leute nach einem ganzen Tag und einer ganzen Nacht im Meer immer noch
leben. Sagt mir nur ob sie tot sind oder nicht.“
Der Typ antwortete mir und ich
verstand, dass niemand überlebt hatte. Nur Sylvie und ich. Ich war im achten
Monat schwanger und so blieben wir. Ich, Sylvie und Victoria.
Gottes Gnade war mit uns an diesem
Tag.
Weit weg von unseren Familien,
weit weg von allen Freunden ist das Leben schwer und wir müssen immer kämpfen.
Aber Gott hat uns ermöglicht zu überleben und ich glaube
daran, dass wir noch wundervolle Dinge erleben können.
Die ersten Personen, die ich nach
dem Unglück traff, waren die Retter: Giannis und Nicola ein Deutscher. Ich möchte die Gelegenheit nutzen ihnen
zu danken. Den ihnen und Gott haben wir es zu verdanken, dass wir noch leben.
Ich habe ein wunderschönes Mädchen bekommen. Sie heißt
Victoria Miracle und deswegen möchte ich mich noch mehr bei unseren Rettern bedanken. Sie
haben unglaublich tolle Arbeit geleistet. Um Menschen zu retten musst du ein
großes Herz haben. Wir leben nur dank ihrer Hilfe.
Danke und Gott soll euch alle Gnade
erweisen und ein langes Leben schenken, so dass ihr noch mehr Menschen aus
Situationen der Verzweifelung retten könnt.
Mein Dank gilt auch Iliaktida,
meiner Sozialarbeiterin Victoria und an das UNHCR. Danke.
Sylvie:
Als das Schlauchboot sank, hielten
meine Rettungsweste und ich das Boot und während es sank, sanken wir auch. Wir
waren vier Leute und wir hielten uns an den Händen und sprachen miteinander um
uns Mut zu machen.
Auf dem Boot waren wir 24
Personen. 19 Schwarze und 5 Weisse. Die zwei Kinder und ihre Mutter und ihr
Vater. Syrer. Der syrische Mann zog an meinem Haar, ich hatte mein Haar im
Gesicht, als ich im Wasser lag. Ich weiß nicht, was uns voneinander getrennt
hat im Wasser.
Eine Welle und ich war allein.
Ich war mit Syliva und sie sagte:
„Sylvie, bleib stark“ ich antwortete: „Ja, Sylvia, ich bin stark, aber du
auch.“. Plötzlich
rief ich „Sylvia“ aber ich hörte nichts. Keine Stimme im Meer. Wir alle schrien laut,
aber ich hörte
nichts. Ich hatte Angst und dachte, vielleicht kommt jemand und rettet uns und
sie haben alle gerettet und nur mich nicht. Mich haben sie zurückgelassen. Mich
haben sie verbannt. Ich begann zu schreien: „Rettet mich!
Rettet mich!“
Nichts. Der Tag kam. Die Wellen.
Ich musste mit dem Rhythmus der Wellen gehen. Wenn eine Welle kam, drehte ich
meinen Kopf zur Seite. Ich sollte nicht schlafen, denn wenn du schläfst…
Ich hatte großes Vertrauen in mir.
Ich wusste jemand würde kommen und mich retten. Das war beruhigend. Wenn ich
diesen Glauben verloren hätte, würde ich hier heute nicht sitzen.
Im Meer sah ich ein großes Boot.
So wie Joelle. Es kam in meine Richtung. Ich schrie:
„Ich bin hier, ich bin hier.“
Nichts. Sie fuhren vorbei.
Die Wellen waren riesig, riesig.
Auch nach 14-15 Stunden im Wasser
hatte ich immer noch den Glauben an Rettung. Ich hatte an alle Götter gebetet. An die griechischen
Götter, an die
türkischen Götter: „Kommt, rettet uns. Kümmert euch um uns.“ Auch als ein
Vogel vorbeiflog bat ich ihn um Hilfe. Sogar eine Fliege, die sich mir näherte
bat ich darum mir zu helfen. Man kann auch mit Tieren sprechen.
Als sie mich aus dem Wasser
holten, konnte ich nicht mehr sehen. Als ich die Boote sah, war es so als wäre
ich am Schlafen und würde aufwachen und es vorbeifahren sehen und ich schrie:
„Hier bin ich.“ Sie warfen mir ein Seil zu und ich versuchte es zu fassen, aber
ich war so müde. Ich konnte es nicht mehr festhalten. Jemand sprang ins Wasser
und hielt mich fest.
Sie haben mich ins Boot gezogen
und mich mit Plastik bedeckt. Das Salzwasser hatte meine Augen verbrannt. Ich
konnte nichts mehr sehen. Ich war blind.
Sie brachten mich zu Joelle. Ich hörte meine Stimme und Joelles in
dem Krankenwagen und sie brachten uns ins Krankenhaus.
Gott ist der Gott der Güte, der
Vergebung und der Wunder. Wenn du es nicht erwartest, dann erscheint er und
mischt sich ein. Ich werde mein ganzes Leben beten. Wenn er mich zurück ins
Leben gebracht hat, dann weil meine Mission noch nicht erfüllt ist und ich
verspreche ihm, dass ich sie erfüllen werden. Bis zum letzten Tag meines
Lebens.
Die rote Tasche.
Wir haben die rote Tasche zusammen
festgehalten. Ich weiß nicht, ob diese rote Tasche uns zusammenhält. Oder ob es
Victoria ist, die im Bauch war und die Tasche. Joelle hat die Tasche im Meer
gehalten und als wir aus der Ambulanz kamen, gab sie mir die Tasche.
Und sie hatte sogar noch eine
Tasche auf ihrem Rücken, die ganze Zeit, die nicht zu uns gehörte. Sie hat sie abgegeben, weil
sie nicht zu uns gehörte.
Joelle:
Ich wusste nicht, was in der
Tasche war. Aber ich glaubte daran, dass wir gerettet werden. Sie hatte mir
etwas anvertraut, dem ich gerecht werden wollte. Das ist normal. Wenn jemand
dir etwas anvertraut, dann musst du darauf acht geben, weil es manchmal Diebe
gibt, die dir etwas stehlen, was gar nicht dir gehört.
Ich dachte: „Vielleicht hat sie da
ihr Geld drin. Ich kann die Tasche nicht vernachlässigen.“
Ich hatte zwei Taschen. Eine
große, von der ich nicht wusste, wem sie gehört. Ich dachte, die Person wird
sie brauchen. Sie haben mich mit der Tasche gerettet. Und als wir aus dem
Wasser kamen, gab ich die rote Tasche Sylvie. Ich habe die ganze Zeit im Wasser
die beiden Taschen bei mir gehabt.
Und jetzt sind wir beide hier und
die Tasche auch und das ist eine unglaubliche Freude.
Als ich ins Krankenhaus kam, hatte
ich Sorge um mein Baby, aber sie haben ein Ultraschall gemacht und gesagt: „Das
Baby ist ruhig.“ Sie ist ein Engel.
Sie ist meine Freude und meine
Kraft. Ich glaube, ich wäre gestorben, wenn sie nicht in mir gewesen wäre. Gott
hatte wirklich Mitleid mit mir. Es ist ein Wunder. Ich nenne sie
Victoria-Miracle.
Gespräch mit marily stroux auf
Lesvos, Oktober 2017.
danke für das ins Deutsch bringen an Therese Roth.